Warum wusste Jesus nicht wann er wiederkommt?
Eine Analyse von Markus 13,32 im Licht der Zwei-Naturen-Lehre und der Communicatio idiomatum
Eine der faszinierendsten und am häufigsten diskutierten Stellen im Neuen Testament findet sich im Markusevangelium, in der Jesus erklärt, dass er die Stunde seiner Wiederkunft nicht kennt. Diese Aussage wird immer wieder von Christen und Nicht-Christen diskutiert, besonders wenn jemand versucht die Gottheit Jesu und die Trinität zu widerlegen.
Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. (LU17)
Auf den ersten Blick scheint dieser Vers ein theologisches Dilemma darzustellen. Wie kann Jesus, der ganz Gott ist, etwas nicht wissen? Bedeutet das, dass es Grenzen für seine Göttlichkeit gibt? Wenn ja, wie kann er dann Gott sein?
Die Zwei-Naturen-Lehre
Von zentraler Bedeutung für das Verständnis dieses Abschnitts ist die Zwei Naturen Lehre welche besagt, dass Jesus sowohl wahrer Gott als auch wahrer Mensch ist.
Diese Vereinigung zweier Naturen in einer Person ist ein Mysterium, das jedoch für den christlichen Glauben von grundlegender Bedeutung ist. So sagt Gott z.B. in Jesaja 55:
Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR.
Jesus ist wahrer Gott und wahrer Mensch: Jesus besitzt alle Eigenschaften Gottes. Er ist allwissend, allmächtig und allgegenwärtig. Gleichzeitig besitzt Jesus alle Eigenschaften des Menschen. Er erlebte Hunger, Müdigkeit und wuchs an Weisheit (Vgl. Lukas 2,52).
Communicatio idiomatum
Communication idiomatum bedeutet in der Lutherischen Theologie so viel wie die Mitteilung der Eigenschaften. Im Vergleich zur Kenosislehre verzichtet Jesus nicht vollständig auf seine göttlichen Eigenschaften, sondern werden beide Naturen miteinander verbunden, indem beide Naturen miteinander kommunizieren. Auf gewisse Eigenschaften könnte Jesus natürlich trotzdem verzichtet haben. Markus 13,32 ist Ausdruck seiner Menschlichen Natur, nicht aber die Infragestellung seiner göttlichen Natur. Philipper 2:5-7 beschreibt diese Selbstentäußerung folgendermaßen:
Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Diese Passage deutet darauf hin, dass Jesus zwar seine göttliche Natur beibehielt, sich aber dafür entschied, den Gebrauch seiner unabhängigen göttlichen Eigenschaften einzuschränken. Möglich ist zum einen dass er seine Göttliche Natur in verborgener Weise genutzt haben könnte. Zum anderen, dass er in seiner Menschwerdung freiwillig seine Allwissenheit eingeschränkt hat, um die menschlichen Grenzen vollständig zu erfahren. Auch diese beiden Gedankengänge schließen sich nicht aus. Wichtig ist jedoch, beide Naturen nicht voneinander zu trennen. Es ist schließlich ein Christus und nicht zwei.
Der folgende kurze Auszug aus der Confessio Augustana kann dem Verständnis noch helfen: “Ebenso wird gelehrt, dass Gott, der Sohn, Mensch geworden ist, geboren aus der reinen Jungfrau Maria, und dass die zwei Naturen, die göttliche und die menschliche, also in einer Person untrennbar vereinigt, ein Christus sind, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist…” (Artikel 3 - CA)
Wer weiter in die Tiefe zur Zwei-Naturen-Lehre und der Communicatio idiomatum gehen möchte empfehle ich die Lutherischen Bekenntnisschriften als auch eine Recherche über Das Konzil von Chalcedon im Jahr 451.
Heißt das, dass Jesus nicht ganz Gott ist?
Das bedeutet jedoch nicht, dass Jesus nicht ganz Gott ist. Die Einschränkungen hat er sich selbst freiwillig auferlegt. So wie Jesus körperlichen Hunger und Müdigkeit erfuhr, so erfuhr er auch die Grenzen des menschlichen Wissens. Dies war notwendig, damit er sich vollständig mit der Menschheit identifizieren und seine Rolle als zweiter Adam erfüllen konnte, um stellvertretend für die Sünden aller Menschen sterben zu können.
Wie kann man Jesus denn trauen, wenn er nicht alles weiß?
Die Vertrauenswürdigkeit Jesu wird durch seine freiwillige Begrenzung des Wissens nicht beeinträchtigt. Vielmehr zeigt seine Bereitschaft menschliche Grenzen auf sich zu nehmen, seine Demut und Liebe zu uns Menschen. Durch die Betonung seiner menschlichen Natur wird Gott auf einem Mal ganz nahe und erfahrbar. Jesu Wissen und Autorität ergeben sich aus seiner Beziehung zum Vater.
In Johannes 8:28–29 sagt Jesus:
Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und nichts von mir aus tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich. Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er lässt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt.
Warum sollte der Vater diese Information dem Sohn denn vorenthalten?
Die Rolle der Trinität
Der Zweck hinter dieser göttlichen Anordnung kann als Teil der ökonomischen Trinität (wie Gott in der Heilsgeschichte handelt) gesehen werden, in der dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist unterschiedliche Rollen und Funktionen zugeschrieben werden. Dass der Vater das spezifische Wissen über den Zeitpunkt des Endes zurückhält, dient dazu, die unterschiedlichen Rollen innerhalb der Gottheit zu betonen und die Notwendigkeit des Vertrauens und der Abhängigkeit vom Vater hervorzuheben. In der ökonomischen Trinität hat der Vater dem Sohn diese Kenntnis nicht offenbart, weil es nicht Teil seiner Mission war, diese Information zu verkünden. Die göttliche Allwissenheit wäre somit eine Eigenschaft der inneren, "immanenten" Trinität, während in der ökonomischen Rolle des Sohnes diese Kenntnis zurückgehalten wird.
Der Abschnitt in Markus 13,32 zeigt die dynamische Beziehung innerhalb der Dreieinigkeit. Sie unterstreicht die unterschiedlichen Rollen von Vater, Sohn und dem Heiligen Geist. Der Vater wird oft als der Planer und Initiator dargestellt, der Sohn als der Vollbringer und der Heilige Geist als derjenige, der die Erlösung anwendet. Diese Unterscheidungen implizieren jedoch keine Ungleichheit, sondern vielmehr eine harmonische Arbeitsbeziehung innerhalb der Gottheit - Ergänzend bzw. ökonomisch.
Die vollkommene Menschlichkeit Jesu
Da Jesus die Stunde seiner Wiederkunft nicht kannte bzw. auf das Wissen verzichtete, hat er die Begrenztheit des menschlichen Wissens voll akzeptiert. Dieser Aspekt seiner Menschlichkeit ist entscheidend für seine Rolle als Hoherpriester, der nach Hebräer 4,15 mit unseren Schwächen mitfühlen kann:
Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
Dieser Vers hebt das Einfühlungsvermögen und die Sündlosigkeit Jesu hervor und stellt ihn als einen nachvollziehbaren und doch vollkommenen Hohenpriester dar, der die menschlichen Kämpfe versteht, aber nicht der Sünde erlegen ist. Jesus konnte allen Versuchungen voll und ganz als Mensch widerstehen. Als einziger. Damit versichert er uns, dass er wirklich ein menschliches Leben mit all seinen Einschränkungen und Herausforderungen gelebt hat.
Eschatologische Bedeutung
Die Aussage Jesu dient auch einem eschatologischen Zweck. Sie unterstreicht die Bedeutung von Wachsamkeit und Bereitschaft unter den Gläubigen. Wenn schon der Sohn in seinem irdischen Wirken die Stunde nicht kannte, wie viel mehr sollten wir in Erwartung und Bereitschaft für seine Wiederkunft leben. Der Vers ist ein Aufruf zur Treue und Beharrlichkeit. Wüssten wir als Gläubige genau den Zeitpunkt, besteht denke ich doch stark die Gefahr faul zu werden. Ganz nach dem Motto: “Jesus kommt doch eh noch nicht wieder, wozu also … tun, wenn es eh noch nicht soweit ist”. Im Vergleich dazu, müssen wir so, ohne dass Jesus diese Frage klar beantwortet hat, immer Bereit für seine Wiederkunft in Herrlichkeit sein und unser Leben als Christen auch danach ausrichten.
Praktische Anwendungen für gläubige Christen
Mit Vorfreude leben
Jesu Betonung, dass er die Stunde seiner Wiederkunft nicht kennt, ist eine eindringliche Ermahnung an die Gläubigen, in Erwartung und Bereitschaft zu leben. Wir sollen unser geistliches Leben also oberste Priorität einräumen, eine enge Beziehung zu Gott pflegen und unseren Mitmenschen dienen und lieben. Wie Jesus in Matthäus 24,42 sagt:
Darum wachet; denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt.
Vertrauen in Gottes Souveränität
Sprüche 3,5-6 ermutigt uns Gläubige auch, auf die Souveränität und Weisheit Gottes zu vertrauen. So wie Jesus auf das Wissen und den Zeitplan des Vaters vertraute, sind auch wir aufgerufen, auf Gottes Plan für unser Leben und die Welt zu vertrauen. Nichts ist vor Gott verborgen und passiert entgegen seines Wissens.
Verlass dich auf den HERRN von ganzem Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand, sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen.
Umfassende Demut
Indem er die menschlichen Grenzen respektierte, schränkte sich Jesus freiwillig ein. Wir Menschen haben diese Freiheit nicht. Und dennoch ist Jesus ein Vorbild für uns, an dem wir uns auch in der Hinsicht ein Beispiel nehmen können. Wir können und werden nie so denken oder handeln wie Gott. Warum? Weil wir Menschen sind. Diese Grenze hinzunehmen ist für uns auch eine gewisse Art der Demut. Philipper 2:5-8:
Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Als gläubige Christen sollten wir eine Haltung der Demut einnehmen, unsere eigenen menschlichen Grenzen anerkennen und uns auf Gottes Kraft und Weisheit verlassen.
Zur Beharrlichkeit ermutigen
Die Erkenntnis, dass selbst Jesus in seinem irdischen Dienst unter bestimmten Beschränkungen arbeitete, ermutigt die Gläubigen, in ihren eigenen Kämpfen und Beschränkungen auszuharren.
Hebräer 12,1-2
Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns umstrickt. Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes.
Zusammenfassung
Markus 13,32 lädt die Gläubigen dazu ein, das Geheimnis der Menschwerdung Christi und das Wesen der Dreifaltigkeit tiefer zu verstehen. Die freiwillige Begrenzung des Wissens Jesu während seines irdischen Wirkens ist ein tiefer Ausdruck seiner Demut und seines Gehorsams. Sie dient auch als Ermahnung an die Gläubigen, in Erwartung zu leben, auf Gottes Souveränität zu vertrauen, Demut zu üben und im Glauben auszuharren. Wenn wir unser Verständnis auf die Zwei-Naturen-Lehre und den breiteren theologischen Kontext wie z.B. der Communicatio idiomatum stützen, können wir die Aussage Jesu mit seiner Göttlichkeit in Einklang bringen. Dieser Abschnitt untergräbt nicht die göttliche Natur Jesu, sondern bereichert unser Verständnis über seine zwei Naturen. Insbesondere seiner menschlichen Natur sowie seines beispielhaften Lebens des Vertrauens und Gehorsams gegenüber dem Vater. Wenn wir über diese Wahrheiten nachsinnen, sind wir aufgerufen, dem Beispiel Jesu nachzueifern und im Lichte seiner verheißenen Wiederkunft treu und erwartungsvoll zu leben. Nicht ohne Grund verrät Jesus nicht das genaue Datum seiner Wiederkunft. Durch seine Menschwerdung ist Gott uns auf einem Mal auch richtig nahe gekommen. Gott wandelte höchstpersönlich hier auf der Erde. Kennt Leid, Trauer, Freude usw. Er kann mit uns mitfühlen. Seelsorgerlich betrachtet schenkt diese Erkenntnis viel Trost denjenigen, die sich mit ihrem Leiden nicht ganz wahrgenommen fühlen.